Trainingskultur - von Freiheit und Zwang

 
 

Geleitete Parkourtrainings bringen ein Problem mit sich, dessen Lösung nicht offensichtlich ist:

In seiner Essenz geht es im Parkour darum, sich Challenges in seiner Umgebung zu suchen und an ihnen zu arbeiten. Oft finden sich Trainingspartner, mit denen zusammen trainiert werden kann, aber letztendlich sind diese Challenges super individuell - zu welcher Bewegung man sich hingezogen fühlt, hängt von persönlichem Interesse, Erfahrungsschatz und anderen Voraussetzungen ab. 

Wenn ich also 5 Leute, mit dem Auftrag eine Line zu finden, an einem Spot absetze, werde ich am Ende der Session 5 verschiedene Lines bekommen.

Wie vereine ich diese individuelle Disposition mit der Tatsache, dass ich als Trainer ein Stundenthema oder zumindest abwechslungsreiche Bewegungen präsentieren muss? Und was passiert mit den Gruppen, die den einen oder den anderen Trainingsstil durchleben?

Die Anfängerproblematik - Wohin mit mir?

Anfänger im Parkour haben oft ein bestimmtes Problem: sie wissen gar nicht, wo anzufangen. Daher ist es wichtig, in Einsteigerworkshops und anderen Settings mit Leuten, die zum ersten Mal Parkour ausprobieren, eine Reihe von Prinzipien durchzugehen, die ihnen helfen, sich in der Halle (oder am Spot) zu orientieren und Challenges zu finden, die ihrem Bewegungslevel entsprechen.

Das wird bedeuten, ihnen einige spezifische Bewegungen zu zeigen, an denen sie arbeiten können. Springen, Landen, einfache Vaults, Wallruns, etc. Soweit, so klar.

Regelmäßiges Training und unsichtbare Langzeiteffekte

Denken wir nun an regelmäßige Trainings mit Kindern von 8 bis 12. Wir stellen uns zwei Gruppen vor, die auf komplett gegensätzliche Weise trainiert werden.

Das geleitete Training

Jede Woche wärmen wir unsere Gruppe auf, lassen sie Krafttraining machen und zeigen ein oder zwei Bewegungen, an denen alle arbeiten. Wir sind präsent und haben immer eine Antwort auf den Satz "Ich weiß nicht, was ich machen soll”, parat. Nach einem Jahr sind alle regelmäßigen Teilnehmer stärker geworden und beherrschen die wichtigsten Grundlagen. Sie kommen Wände hoch, können Klimmzüge, Katzensprünge und vielleicht sogar beherrschen ein paar Wall- oder Backflips.

Doch eine Sache ist noch passiert… Die Gruppe hat nicht gelernt, eigenständig zu trainieren oder neue Challenges zu finden, die ihnen gefallen. Im besten Fall werden Sachen geübt, die bereits durchgenommen wurden. Doch letztendlich haben wir erfolgreich ein Jahr lang unsere Erfahrungen aus dem Schulsport verstärkt und Bewegungen geübt, weil es eine Autoritätsperson von uns verlangt hat. Wir haben nicht verstanden, warum wir Krafttraining machen oder wie wir “gemeisterte” Bewegungen auf andere Kontexte übertragen.

Wir, als Trainer, haben also in unserer Aufgabe, Spaß an Bewegung zu entfachen, versagt. Wir haben kein Parkour beigebracht, sondern das Mindset, das wir alle in Schule und auch im Vereinssport mitbekommen haben: Bewegung ist eine Aufgabe, die uns gegeben wird und wir üben, was uns unsere Lehrer auftragen.


Das freie Training

Erinnern wir uns an das Problem vom Anfang: Anfänger wissen nicht, wo sie überhaupt anfangen sollen. Dann stellen wir uns eine Gruppe vor, deren Trainer kaum mehr macht, als die Halle aufzusperren. 

Die übliche Zusammensetzung einer derartigen Gruppe besteht aus sehr wenigen, die bereits eine Art Vorerfahrung besitzen, die ihnen erlaubt, „fortgeschrittene“ Tricks zu üben. Neben denen gibt es einen großen Anteil, oft durchrotierender Anfänger. 

Stell dir vor, du bist eine/r von ihnen. 

Du siehst die „coolen Kids“ Backflips machen und fragst dich, wie du sowas jemals lernen sollst. Dann siehst du andere, die ein paar Kästen oder Mauern (das Privileg der Parkourhalle) benutzen, um erste Überwindungen zu üben. Andere siehst du an Stangen umherhangeln oder auf der Airtrack Frontflips probieren (alle landen auf dem Hintern). Nach guten 45 Minuten spielt die Hälfte der Gruppe fangen.

Was für Langzeiteffekte kannst du in dieser Gruppe beobachten?

Die Antwort ist meist recht simpel.

Nach einem halben Jahr siehst du immer noch die gleichen Backflips machen. Sie haben 1-2 neue Tricks in ihr Repertoir aufgenommen. Du siehst dieselben und ein paar neue Leute ähnliche Bewegungen über Kästen probieren und Frontflips auf ihren Hintern landen.

Du siehst keine Armsprünge, Climb-Ups, Doppelkatzen oder Schwinger-Pres von Leuten, die diese nicht vor einem halben Jahr schon konnten. Ich erinnere mich, als ich einmal nach Jahren ein altes Training wieder übernahm und ein Junge anfing zu weinen, weil er nach Jahren immer noch keinen Katzensprung konnte.

Mein Problem

Kommen wir also zurück zum Anfang. Mein Problem ist:

In dem Moment, in dem ich dir sage, was du tun sollst, hören wir auf, Parkour zu machen. 

Ich möchte keinen Schulsport machen, in dem ich meiner Gruppe sage, was sie tun und lassen sollen. Ich möchte dir nicht sagen müssen, was du machen oder lassen sollst. 

Ich möchte dir dabei helfen, die Sachen zu lernen, auf die du Lust hast. 

Aber. Trainingsfortschritt findest du nicht immer in den Dingen, auf die du „Lust“ hast. Er ist dort zu finden, wo es hart und anstrengend wird. Manchmal sogar langweilig. 

Ich wurde in einem Training mal streng genannt, weil ich der Gruppe gesagt habe, dass sie eben keine Wände hochkommen, wenn sie keine Klimmzüge können. 

Keine Wände hochkommen macht keinen Spaß. Klimmzüge üben vielleicht auch nicht. Aber wenn dich jemand zwingt, regelmäßig Klimmzüge zu machen, wirst du irgendwann Wände hochkommen. Dann kannst du Climb-Ups üben und irgendwann fliegst du Wände hoch. Das macht Spaß und fühlt sich gut an. 

Wenn ich meine Gruppe nicht dazu zwinge, Sachen zu machen, in denen sie schlecht sind, bleiben sie bei den Dingen, in denen sie „von Natur aus“ gut sind. Oder sie fangen gar nicht erst an, herauszufinden, in was sie gut sein könnten.

Ja, es gibt Ausreißer in jeder Statistik. Ich kenne einige und es ist mir ein inneres Blumenpflücken, sie zu trainieren. Es gibt Kinder, denen zeigst du einen Armsprung und dann siehst du sie durch die Halle ziehen und alle Armsprünge machen, die sie finden können.

Doch wenn wir Training für die Ausreißer machen, bleibt ein Großteil der Gruppe auf der Strecke. Und wenn wir Schulsport machen, verraten wir das, wo wir herkommen.

Keine Lösung, aber

Für komplexe Probleme gibt es keine einfachen Lösungen. Die meisten Antworten auf derartige Fragen müssen mit „Es kommt darauf an…“ beginnen. Hier sind einige Ideen, die du als Wegweiser in deinen eigenen Trainings nutzen kannst, um diese schwierige Brücke zu schlagen.

Balance ist kein Mittelweg

Die Balance zu finden heißt nicht, in der Mitte stillzustehen. Probiere unterschiedliche Trainingsstile aus und beobachte, was mit der Gruppe passiert. Behalte im Hinterkopf, dass alles im Leben durch Phasen geht und es okay ist, Dinge eine Weile auf eine Art zu machen und zu später eben anders. Man kann nicht alles gleichzeitig erledigen.

Practise what you preach

Du machst das, was du sagst, glaubwürdiger, indem du an deinem eigenen Beispiel zeigst, dass es stimmt, was du sagst. Du musst vielleicht nicht jedes Krafttraining mit deiner Gruppe mitmachen. Aber es darf sich nicht die Frage stellen, ob du überhaupt selbst schaffst, was du verlangst.

Wenn du zeigst, dass es okay ist, etwas zu probieren und nicht sofort zu schaffen, gibst du damit einen Einblick in, was es heißt, Parkour zu trainieren.

Wenn du zeigst, dass du Spaß am Training hast und dich gerne auch mal ohne direktes Ziel bewegst, lädst du damit ein, es dir nach zu tun. 

Erweitere deinen Bewegungshorizont

Eine Hyperfixation auf große Ziele im Training ist meistens nicht zielführend. Erstens kann man nicht stundenlang an einer Bewegung arbeiten. Zweitens ist es super frustierend, etwas „ewig“ zu üben, ohne offensichtlichen Fortschritt zu machen. Und drittens geht es im Parkour einfach nicht darum, endlich einen Backflip oder eine Katze zu können. Was, wenn du dein Ziel auf einmal erreicht hast? 

Im modernen Parkour gibt es so viele Stile, die Bewegungen hervorgebracht haben, die viel einfacher sind als die klassischen Sprünge oder Flips. Vor Backflips kommen B-Kicks, allerlei Rollen, Cheat Bargainer, Skin the Cat oder Macaco. Noch besser, wenn du in der Lage bist, Challenges auf Anfängerniveau an jedem Spot zu finden.

Athleten wie Matt McCreary oder Lisa Eckert sind gute erste Anlaufstellen, um sich Inspiration ‚out of the box‘ zu holen.

Rituale und Gruppenpraktiken

Nutze Krafttraining als ein Ritual am Anfang oder am Ende des Trainings. Ein Klassiker aus der guten alten Zeit sind Climb-Ups. Am Ende des Trainings machen alle Climb-Ups, ohne wenn und aber.

In deinem Training können es Klimmzüge oder Vorübungen dafür sein. Liegestütze und Klimmzüge. Oder Strecksprünge. Oder im Handstand an der Wand stehen. Egal, solange es zielführend ist und du einen Weg findest, auf dem alle mitmachen und Fortschritt machen können.

Nutze Bewegungsprinzipien

Im Coaching kommen wir nicht darum herum, Bewegungen beizubringen. Ebenso nutzen wir Challenges, um unsere Gruppen herauszufordern oder ihnen zu zeigen, was im Parkour alles möglich ist. 

Das Problem entsteht dann, wenn unsere Schüler das, was wir mit ihnen im angeleiteten Teil der Stunde gemacht haben, als das Ende des Weges wahrnehmen. 

„Das ist ein Kasten. An Kästen macht man Kongs.“ 

vs.

„Ich habe Kongs gelernt. Jetzt gehe ich durch die Welt und sehe überall alle möglichen Arten von Kongs.“

Versuche also immer wieder den richtigen Moment zu finden, in dem du den Raum öffnen kannst, um das Gelernte auf andere Situationen zu übertragen. (Ich habe dabei eine Parkourhalle im Kopf. Vermutlich hast du keinen derartigen Luxus zur Verfügung. Aber vielleicht hast du Outdoortrainings. Oder bist kreativ bei Aufbauten in Turnhallen.)

  • „Das ist eine Katze. Wo hier kannst du noch eine Katze machen? Geht das auch diagonal? Oder von hier? Über die Stange?“ Etc.

  • „Wo kannst du noch gegen Wände treten und auf etwas landen? Über etwas fliegen?“

Lösungsansätze zusammengefasst

Versuche, das Prinzip hinter einer Bewegung zu vermitteln und deiner Gruppe klarzumachen, dass Parkour dort entsteht, wo sie das, was sie schon können - oder eben nicht - auf ihre Umgebung übertragen und eigene Ideen bekommen.

  • Mach mit und teile deine Leidenschaft.

  • Zeige, wohin Training führen kann.

  • Nutze Krafttraining und/oder Spiele als Gruppenritual, das eine Stunde in Gang bringt oder abrundet.

  • Arbeite an deinem eigenen Stil und verstehe, dass andere Stile manchmal genau das sind, was manche deiner Schüler und Schülerinnen brauchen.

  • Probiere freie und geleitete Führungsstile aus und beobachte, was deine Gruppe voranbringt.

Erinnere dich daran, wie Parkour sein kann und orientiere dich an deiner Idealvorstellung eines Trainings an Jams, in denen zusammen trainiert und sich gegenseitig inspiriert wird. Das ist der Weg, um eine eigene Lösung für dieses ewige Problem zu finden.